Die Carewerkschaft: Warum wir Sorgearbeit neu denken müssen

 

Stellen wir uns vor, die größte Arbeitgeberin Deutschlands hätte keine Tarifverträge, keine Arbeitsschutzbestimmungen und würde nicht einmal Löhne zahlen. Undenkbar? Genau das ist die Realität für über 20 Millionen Menschen, die täglich unbezahlte Sorgearbeit leisten. Die   von  mir (Jo Lücke) und Franzi  Helms    gegründete Liga für unbezahlte Arbeit (LUA) setzt genau hier an – mit einem revolutionären Ansatz, der das Potenzial hat, unser Verständnis von Arbeit grundlegend zu verändern.

 

Gewerkschaftliche Strategie auf verfassungsrechtlicher Ebene

 

Die  Liga   verfolgt eine Strategie, die auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen mag, bei näherer Betrachtung jedoch bestechend logisch ist: Sie überträgt das Prinzip gewerkschaftlicher Organisation auf die Welt der unbezahlten Sorgearbeit. Während traditionelle Gewerkschaften mit Manteltarifverträgen grundlegende Arbeitsbedingungen für bezahlte Arbeit regeln, zielt die LUA auf eine Grundgesetzänderung ab, um fundamentale Rahmenbedingungen für Sorgearbeit zu sichern.

 

Diese Parallele ist kein Zufall. So wie ein Manteltarifvertrag den Rahmen für alle weiteren Vereinbarungen in der bezahlten Arbeitswelt schafft, würde die Verankerung von familiärer Fürsorgeverantwortung im Grundgesetz einen verfassungsrechtlichen Rahmen etablieren, auf dessen Basis dann weitere gesetzliche Regelungen entwickelt werden könnten. Die  Liga für unbezahlte Arbeit  setzt damit an der höchsten rechtlichen Stelle an und schafft einen Grundsatz, der auf zahlreiche Lebensbereiche ausstrahlt – von der Arbeitszeitgestaltung über finanzielle Absicherung bis hin zu Stadtplanung und Gewaltschutz.

 

Staat und Gesellschaft als faktische Arbeitgeber

 

Doch warum sollte Sorgearbeit überhaupt auf dieser Ebene geschützt werden? Die Antwort liegt in einer unbequemen Wahrheit: Staat und Gesellschaft fungieren faktisch als "Arbeitgeberin" der Sorgearbeitenden, ohne die entsprechende Verantwortung zu übernehmen.

 

Sorgearbeit erzeugt einen enormen gesellschaftlichen Mehrwert, von dem alle profitieren. Die Betreuung von Kindern sichert zukünftige Generationen von Arbeitskräften, Steuerzahlern und Beitragszahlern. Die Pflege von Angehörigen entlastet das öffentliche Gesundheitssystem massiv. Ohne diese unbezahlte Arbeit müsste der Staat enorme Summen aufwenden, um dieselben Leistungen zu erbringen.

 

In vielen Bereichen übernehmen Sorgearbeitende zudem Aufgaben, die eigentlich in staatliche Verantwortung fallen würden – von Bildung und Erziehung über Gesundheitsversorgung bis hin zu sozialer Integration. Der Staat "beschäftigt" somit indirekt Millionen unbezahlter Arbeitskräfte, die diese Aufgaben übernehmen.

 

Auch die Wirtschaft profitiert unmittelbar: Unternehmen können auf gesunde, betreute, ausgebildete Arbeitskräfte zurückgreifen, die Reproduktion der Arbeitskraft wird kostenlos sichergestellt, und Sorgearbeit schafft überhaupt erst die Voraussetzungen für Erwerbsarbeit. Volkswirtschaftlich betrachtet subventionieren Sorgearbeitende die Wirtschaft mit ihrer unbezahlten Arbeit im Wert von etwa 1,2 Billionen Euro jährlich.

 

Wie ein Arbeitgeber setzt der Staat zudem die Rahmenbedingungen für Sorgearbeit: Er definiert, welche Unterstützungsleistungen es gibt, legt fest, wie Sorgearbeit mit Erwerbsarbeit vereinbart werden kann, und kontrolliert über Jugendämter, Schulen und andere Institutionen sogar die Qualität der Sorgearbeit.

 

Die logische Konsequenz: Eine Carewerkschaft

 

Wenn wir Staat und Gesellschaft als Arbeitgeberin der Sorgearbeitenden betrachten, ergeben sich logische Forderungen: angemessene  Tarife in Form von    sozialer Absicherung, Arbeitsschutz und Arbeitnehmer*innenrechten, Mitbestimmung über die Bedingungen der Sorgearbeit und Verantwortung für die "Arbeitsbedingungen".

 

Genau hier setzt die Liga für unbezahlte Arbeit an. Sie macht deutlich, dass es sich bei ihrer Forderung nach verfassungsrechtlichem Schutz nicht um ein Privileg handelt, sondern um die längst überfällige Anerkennung eines faktischen Arbeitsverhältnisses zwischen Sorgearbeitenden und dem Gemeinwesen.

 

So wie Gewerkschaften nach Abschluss eines Manteltarifvertrags weitere spezifische Vereinbarungen anstreben, könnte die   Liga für unbezahlte Arbeit    nach einer erfolgreichen Grundgesetzänderung weitere gesetzliche Verbesserungen in verschiedenen Bereichen vorantreiben. Die Verfassungsänderung wäre nicht das Ende, sondern der Anfang eines umfassenden Wandels.

 

Ein Paradigmenwechsel steht bevor

 

Die Liga für unbezahlte Arbeit fordert nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis von Arbeit, Wert und gesellschaftlicher Verantwortung. Sie stellt die fundamentale Frage: Wenn Sorgearbeit gesellschaftlich notwendig ist und allen zugute kommt, warum werden dann die Kosten und Risiken privatisiert?

 

Mit ihrer innovativen Strategie, gewerkschaftliches Denken auf die verfassungsrechtliche Ebene zu übertragen, könnte die  Liga tatsächlich Geschichte schreiben. Sie erinnert uns daran, dass auch die heute selbstverständlichen Arbeitnehmer*innenrechte einst erkämpft werden mussten – und dass es höchste Zeit ist, diesen Kampf auch für die unbezahlte Arbeit zu führen.

 

Die Zeit ist reif für eine Carewerkschaft. Die Zeit ist reif für die Liga für unbezahlte Arbeit.  Jetzt Mitglied werden!

 

 

PS; Die Liga für unbezahlte Arbeit ist ein eingetragener Verein. Die Gemeinnützigkeit ist beantragt und liegt beim Finanzamt, das die Freistellung mündlich angekündigt, aber noch nicht verschriftlicht hat.