12 Fragen zu gendersensibler Therapie & Beratung an Jo Lücke

1/12 Frau Lücke, welche Grenzen der Psychotherapie werden Ihrer Meinung nach oft übersehen?

 

„Das größte Missverständnis ist, dass man alle Probleme lösen kann, wenn man nur ‚an sich arbeitet‘. Oder dass man nur ‚die richtige‘ Methode braucht, um den Alltag zu bewältigen. Viele Herausforderungen, aufgrund derer Menschen Hilfe suchen, haben strukturelle Ursachen – wie etwa die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit oder Rollenerwartungen. Therapie oder Coaching kann helfen, diese Muster zu erkennen und den Umgang damit zu verbessern, aber sie kann gesellschaftliche Strukturen nicht im Alleingang verändern.“

 

2/12 Inwiefern berücksichtigt die moderne Psychotherapie gesellschaftliche und strukturelle Faktoren bei der Behandlung?

 

„Leider oft noch unzureichend. Das Neutralitätsgebot in der Therapie führt häufig dazu, dass strukturelle Probleme individualisiert werden. Statt zu erkennen, dass beispielsweise die Erschöpfung einer Mutter mit der ungleichen Verteilung von Care-Arbeit zusammenhängt, wird nach individuellen Bewältigungsstrategien gesucht. Es gibt jedoch eine wachsende Bewegung für diskriminierungssensible Psychotherapie und natürlich die feministische Beratung, die diese Strukturen explizit benennt und in die Arbeit einbezieht.“

 

3/12 Welche konkreten Strategien empfehlen Sie Therapeut*innen im Umgang mit strukturell bedingten Problemen?

 

„Beratende sollten zunächst die Benachteiligung als real anerkennen und nicht als subjektive Wahrnehmung abtun. Sie sollten Raum geben, um die Auswirkungen dieser Strukturen zu besprechen, ohne die Verantwortung für deren Überwindung allein bei der Klient*in zu verorten. Konkrete Methoden, wie ich sie in meinen Seminaren lehre, können helfen, persönliche und strukturelle Ebenen zu unterscheiden. Wichtig ist auch, zwischen Bereichen zu unterscheiden, in denen die Klient*in Handlungsmacht hat, und solchen, wo kollektive Veränderungen nötig sind.“

 

4/12 Welche Anzeichen deuten darauf hin, dass ein*e Therapeut*in sensibilisiert ist?

 

„Sensibilisierte Therapeut*innen haben Hintergrundwissen zu gesellschaftlichen Kontexten, verwenden eine inklusive Sprache und reagieren nicht abwehrend, wenn Themen wie Sexismus oder Rassismus angesprochen werden. Sie pathologisieren nicht automatisch Reaktionen auf Diskriminierung und erkennen Mikroaggressionen wie ‚Du bist aber empfindlich‘ oder ‚Ist das wirklich so schlimm?‘. Sie zeigen außerdem Bereitschaft, die eigenen Vorurteile und Stereotype selbstkritisch zu reflektieren und bieten Raum für die Erfahrungen der Patient*innen.“

 

5/12 Welche besonderen Bedürfnisse haben Menschen mit Diskriminierungserfahrungen in therapeutischen Settings?

 

„Betroffene brauchen vor allem Anerkennung ihrer Erfahrungen als real und valide. Sie benötigen einen sicheren Raum, in dem sie nicht erneut Diskriminierung erfahren. Therapeut*innen und Beratende sollten Wissen über spezifische Diskriminierungsformen mitbringen und bereit sein, die eigenen Privilegien zu reflektieren. Wichtig ist auch die Haltung der ‚differenzierten Parteilichkeit‘ – also eine herrschaftskritische Position, die Machtverhältnisse thematisiert, statt sie zu ignorieren.“

 

6/12 Inwieweit kann Therapie zur Aufrechterhaltung von Strukturen beitragen?

 

„Therapie ist ein ‚Normalisierungsinstrument‘, so formulierte es Judith Butler. Therapie transportiert eine Norm und bestimmt mit, was eine Abweichung von der Norm darstellt und was nicht. Wenn z.B. eine Frau unter der Doppelbelastung von Beruf und Familie leidet, und die Therapie nur darauf abzielt, ihre Stressresistenz zu erhöhen, statt die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit zu thematisieren, stabilisiert sie die Verhältnisse und wird der Gesamtsituation nicht gerecht. Therapie und Beratung sollten nicht nur Symptome lindern, sondern auch Handlungsspielräume erweitern.“

 

7/12 Beobachten Sie eine zunehmende Individualisierung gesellschaftlicher Probleme?

 

„Absolut. Diese Tendenz ist tief in unserer Gesellschaft verankert, die strukturelle Probleme gerne als persönliche Herausforderungen umdeutet. In vielen Bereichen wird dies durch Ausbildungen verstärkt, die oft männliche Perspektiven reproduzieren und gesellschaftliche Machtverhältnisse ausblenden. Auch der ‚Glaube an eine gerechte Welt‘ spielt eine Rolle – die Annahme, dass jeder für seinen Erfolg selbst verantwortlich sei, macht es schwer, strukturelle Benachteiligungen anzuerkennen.“

 

8/12 Wie kann Psychotherapie politisch bewusster gestaltet werden und zur Ermächtigung der Betroffenen beitragen?

 

„Wie Lore Perls sagte: ‚Psychotherapie ist politische Arbeit.‘ Für echtes Empowerment braucht es Therapeut*innen und Beratende, die ihre eigenen Privilegien und Biases reflektieren und bereit sind, über den Tellerrand individueller Pathologien hinauszuschauen. Es braucht eine Ausbildung, die Genderkompetenz, Rassismuskritik und andere Formen der Diskriminierungssensibilität vermittelt. Und es braucht den Mut, das Neutralitätsgebot kritisch zu hinterfragen, wenn es dazu führt, dass Ungerechtigkeiten reproduziert werden.“

 

9/12 Wie können Therapeut*innen vermeiden, dass Patient*innen sich selbst schuldig fühlen?

 

„Indem eine Erkenntnis des Prozesses sein darf, dass nicht alle Probleme individuell lösbar sind. Therapeut*innen und Beratende sollten darauf hinweisen dürfen, wo die Grenzen individueller Veränderung liegen und wo kollektives Handeln nötig ist. Die Metapher der Bühne kann helfen: Wer hat das Drehbuch geschrieben? Wer führt Regie? Welche technischen Einschränkungen gibt es für die Inszenierung? So wird deutlich, dass wir zwar unsere Rolle gestalten können, aber nicht allein für das gesamte Stück verantwortlich sind.“

 

10/12 Gibt es eine Erfahrung, bei der Ihnen die Grenzen individueller Lösungsideen besonders deutlich wurden?

 

„Wenn 15 Frauen mit Burnout-Symptomen in einem Workshop Lösungen suchen, während ihre Partner kaum Sorgearbeit übernehmen, wird klar: Das ist kein individuelles Problem. Die Erwartung, dass Frauen für das Wohlbefinden aller zuständig sind, während sie gleichzeitig beruflich erfolgreich sein sollen, erzeugt unmögliche Situationen, die kein Workshop, kein Ratgeberbuch und keine Therapie allein lösen kann. Gemeinsam in der Gruppe zu dieser Erkenntnis zu gelangen, kann jedoch eine sehr bestärkende Erfahrung sein.“ 

 

11/12 Was haben Ihre Erfahrungen Sie über das Zusammenspiel von individueller Problemlage und gesellschaftlichem Wandel gelehrt?

 

Ich habe gelernt, dass echte Veränderung sowohl von unten nach oben als auch von oben nach unten kommen muss. Individuelle Arbeit läuft ins Leere, wenn sich strukturelle Bedingungen nicht ändern – und umgekehrt. Therapie und Beratungen können ein wichtiger Baustein sein, aber sie müssen ergänzt werden durch politisches Engagement und strukturelle Veränderungen. Das Ziel genderkompetenter Beratung ist nicht bloße Symptombeseitigung, sondern die Erweiterung von Lebens- und Handlungsmöglichkeiten – für alle Menschen.

 

12/12 Und wer sind Sie eigentlich?

 

Ich bin Autorin und politische Bildnerin zu Gleichstellungsfragen und deren Auswirkungen auf Beziehungen sowie Wirtschaft und Gesellschaft. Ursprünglich habe ich Politikwissenschaft und VWL studiert, bin also selbst keine Therapeutin, sondern arbeite mit Gruppen in Workshops und Trainings. In meinem Sensitivity-Training für Therapeut*innen und Berater*innen vermittle ich Genderkompetenz und sensibilisiere für unbewusste Vorurteile in der Beratungspraxis. Mehr Infos unter  https://www.joluecke.de/seminare/sensitivity-training/

 

Diese bzw. sehr ähnliche Fragen habe ich (Jo) letzte Woche für ein Printmagazin beantwortet, das jedoch nur zwei Sätze verwendet hat. Deswegen veröffentliche ich den Rest hier. :)